
Im Jahre 1780 erschien Gottlob Ephraim Lessings kurze Abhandlung Die Erziehung des Menschengeschlechts. In ihr deutet er die Offenbarungsgeschichte als menschheitlichen Erziehungsprozess. „Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht“. Den unmittelbaren problemgeschichtlichen Kontext der Schrift sowie der in ihr vorgenommenen Umformulierung des Offenbarungsbegriffs bildet der sogenannte Fragmentenstreit. Ausgelöst wurde er bekanntlich von dem Wolfenbütteler Bibliothekar selbst. In den Jahren 1774 bis 1778 publizierte er sieben Fragmente aus dem Nachlass-Manuskript der Apologie des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus. Deren Veröffentlichung bildete den Höhepunkt des Streits über den Status der positiven Offenbarungsreligion und ihres Verhältnisses zur natürlichen Religion. Lessings Erziehungsschrift, deren erste 53 Paragraphen er bereits in den Gegensätzen des Herausgebers veröffentlicht hatte, darf ebenso wie das ein Jahr zuvor erschienene Drama Nathan der Weise als Kommentar zu dieser literarischen Streitsache gelten. Wie in den Gegensätzen ist auch in der Schrift von 1780 das Verhältnis von Autor und Text mehrschichtig. Lessing inszeniert sich als Herausgeber der Abhandlung und nicht als deren Autor, sodann lässt das Augustin-Motto, welches er der Schrift voranstellte, den geltungstheoretischen Anspruch der Schrift bewusst in der Schwebe.
Die Erziehungsschrift markiert ohne Zweifel einen Höhepunkt in den Kontroversen über die geoffenbarte und die natürliche Religion. Lessing unternimmt in ihr den Versuch einer Würdigung der geschichtlichen Religionen in ihrer Vielfalt, indem er ihnen eine spezifische Funktion für die Herausbildung einer universalen ethischen Menschheitsreligion beimisst. Es verwundert deshalb nicht, wenn die Schrift auch in den gegenwärtigen Debatten über einen angemessenen Umgang mit dem religiösen Pluralismus im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Programm sowie Grenzen von Lessings Deutung der Religionsgeschichte sind das Thema der folgenden Überlegungen. In einem ersten Abschnitt ist kurz auf die methodischen Grundlagen der Erziehungsschrift einzugehen und sodann auf die inhaltliche Durchführung des Programms. Abschließen möchte ich mit einer kurzen Würdigung von Lessings Erziehungsprogramm.
Erziehung des Menschengeschlechts