
Menschen sind Tiere, die Zeit haben. Sie haben Zeit, weil sie in die Vergangenheit zurückblicken und in die Zukunft vorausschauen können. Wenn etwas geschieht, was die Herzen verwirrt oder die Köpfe überrascht, können sie fragen: Warum ist es passiert? Und gleichermaßen können sie fragen: Was wird demnächst passieren? Wer oder was hat dieses Ereignis verursacht? Welche Folgen wird es bewirken? Menschen können Beziehungen zu Vergangenem oder Zukünftigem pflegen; sie erinnern und hoffen, trauern und planen, wiederholen und versprechen. Sie zelebrieren Rituale, feiern Feste, errichten Denkmäler oder befragen das Orakel. Sie repräsentieren, was nicht mehr oder noch nicht da ist. Und sie können warten.
Menschen sind Wartewesen. Ihr Warten unterscheidet sich vom Warten des Raubtiers auf seine Beute, vom Warten des Beutetiers auf den günstigsten Moment für einen Fluchtversuch. Wartewesen können ihr Warten mit eigenen Inhalten erfüllen: mit einer Art von Zuneigung zur verstreichenden Zeit. Sobald ein Reiz nicht mehr automatisch – mit genetisch mehr oder weniger festgelegten Reflexen – beantwortet werden muss, werden Mauern errichtet zwischen den Ereignissen und den durch sie provozierten Handlungen. Allmählich können Prozesse kultureller Anreicherung des Wartens beginnen. Aus der Wahrnehmung von Unterbrechungen und Pausen, aus einer nicht mehr bloß habituellen Verzögerung der schnellen Taten und Entscheidungen, entfalten sich elementare Kompetenzen: die Kompetenz, das Geschehene zu analysieren und zu reflektieren, die Kompetenz, das Bevorstehende, Herannahende vorwegzunehmen und zu planen. Die Großhirnrinde ist ein Hemmungsorgan; und die Geschichte der Menschen verdankt sich einem Zeitgewinn, der nur bei oberflächlicher Betrachtung als Zeitverlust erscheinen mag.
Überlegungen und Beratungen bremsen die Taten, schieben sich zwischen Situationen und Entscheidungen, zwischen Ereignisse und Reaktionen. Während viele Umstände routiniert – ohne Zwang zur Reflexion – bewältigt werden können, offenbart sich das mögliche Glück oder Unglück einer konkreten Lage erst in den polymorphen Verzögerungen der Schritte von einer Herausforderung zur Handlung. Die aktuelle Frage lautet dann schlicht: Was tun? – und diese Frage war stets so eminent wichtig, dass führende Anthropologen behaupten konnten, ihre Diskussion habe als wesentliches Element der Hominisation fungiert. Was tun? Die Frage kostete Zeit und brachte doch Zeit zugleich hervor. Während die Tiere – nach Nietzsches vielzitiertem Wort – meist an den »Pflock des Augenblickes« gebunden blieben, konnten Menschen warten. Sie konnten entwerfen, experimentieren, ausprobieren, Risiken abschätzen oder Trends berechnen. Menschen reüssierten als Tiere mit der einzigartigen Fähigkeit, sich Zeit nehmen zu können: als Experten des Aufschubs.
Zwei scheinbar gegenläufige Passionen mussten die Experten des Aufschubs trainieren und beherrschen: die Passionen der Geduld und der Aufmerksamkeit. Geduld ist etymologisch mit dem Dulden und Ertragen verwandt – »Die Liebe duldet alles«, heißt es in Luthers Übersetzung des ersten Korintherbriefs (13,7) – aber auch mit den Tugenden der Langmut, Ausdauer und Toleranz. Wer Geduld übt, setzt sich zum Warten in ein positives Verhältnis, ohne dabei das Ziel, die Erfüllung, aus dem Auge zu verlieren. Geduld ist Gottes »Pflegekind«; sie bedarf der Hoffnung, und zugleich erzwingt sie eine Haltung der Aufmerksamkeit. Wie sonst sollten die Wartenden wissen, wann sie handeln müssen? Die Wahrnehmung des rechten Moments, des Kairos, in dem das Warten zu Ende ist – »als die Zeit erfüllet war«, schreibt Paulus im Brief an die Galater (4,4) – verlangt eine dauerhafte Aufmerksamkeit, eine subtile Art von Wachsamkeit, die Nicolas Malebranche als das »natürliche Gebet der Seele« zu charakterisieren versuchte.
Geduld und Aufmerksamkeit können als elementare Werte stoischer Philosophie, aber auch als Tugenden der jüdisch-christlichen Tradition beschrieben werden. In der Stoa wurden die Haltungen der Geduld und der Wachsamkeit als Strategien zur Befestigung einer »inneren Burg« praktiziert; sie sollten Freiheit und Unabhängigkeit – Autarkie – des Weisen fördern. Dieselben Haltungen ermöglichten in jüdisch-christlicher Spiritualität das beharrliche Warten auf die Erscheinung oder Wiederkehr des Messias; in ihrer apokalyptischen Orientierung teilten beide Religionen die Hoffnung auf den Untergang ihrer jeweiligen Welt.
Das Christentum begann im Horizont der Erwartung des Jüngsten Tages, des Endes der Welt. Erst viel später haben die Bibelwissenschaftler von einer »Naherwartung« gesprochen: als wäre nicht jede Erwartung – im Unterschied zur bloßen Hoffnung – eine solche Naherwartung. Kann man denn auf etwas warten, was vielleicht erst in Jahrtausenden eintreten wird? Gehört nicht zum Warten die Gewissheit, es könne sich nur um eine kurze Zeitspanne handeln, bis das Erwartete eintritt? Spuren dieser Erwartungshaltung finden sich in allen Evangelien. So heißt es bei Markus (13,30), bei Matthäus (24,34) oder Lukas (21,32), dass »diese Generation« nicht vergehen wird, »bis das alles eintrifft«: die Zerstörung des Tempels, der heiligen Stadt Jerusalem, ja der gesamten Welt. Empfohlen wird sogar eine gesteigerte Aufmerksamkeit, damit die Gläubigen nicht vom Anbruch des letzten Tages überrascht werden. Und sogar das Johannes-Evangelium ließ Jesus in seinen Abschiedsreden, während des letzten Abendmahls, verkünden: »Noch kurze Zeit, dann seht ihr mich nicht mehr, und wieder eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich sehen« (16,16). Die Jünger waren ratlos, sie fragten (vielleicht wie die ersten Leser des Evangeliums): »Was heißt das: eine kurze Zeit? Wir wissen nicht, wovon er redet« (16,18). Die Antwort klang zwar beruhigend; sie bezog sich auf den Zeithorizont einer Schwangerschaft. Aber Jesus sprach nicht mehr vom Weltuntergang, sondern vom »Haus« seines Vaters, in dem es »viele Wohnungen« gebe, die er für seine Jünger vorbereiten wolle (14,2–3). Er sprach nicht mehr von Wiederkehr, sondern von Wiedersehen; und er schien davon auszugehen, dass dieses Wiedersehen erst nach dem Tod der Gläubigen geschehen werde. Anders macht die Prophezeiung keinen Sinn, dass die Stunde kommen werde, »in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten« (16,2). Das Reich Christi sollte offenbar nicht mehr – gegen das römische Imperium – in der Welt errichtet werden; als Reich des Vaters, als himmlisches Jerusalem, war es gar nicht von dieser Welt.
Warten auf ein Fest