
Bei uns, so der siebenjährige Elmar Salmann, fängt Weihnachten am 27. Dezember an. Was steckt hinter so einem Satz?
Erstens: Das Fest als Traum und Trauma.
In diesem resignierten und zugleich einverstandenen Satz, mischen sich beide. Da war die lange Vorfreude, aber auch die sanfte Bangnis der Adventszeit. Erwartungsträume von Licht, Wärme, Geborgenheit im Kind-Sein, von Gaben, Musik, Bangnis in Erwartung der Atmosphäre, die Schleiermacher in der Weihnachtsfeier evoziert. Urverbundenheit, Eingelassenheit und man öffnete dreißigmal ein Türchen im Adventskalender auf der Suche nach einer anderen, nur transparent im Gegenlicht sichtbaren Welt. Zauber der Erwartung, der Verklärung und das Fest übererfüllte das, fast alles zu viel, zu viel Geschenke, zu viel an Kirchgang, zu viel an Verwandtschaftsbesuchen, die schrecklichen Tanten kamen und nisteten sich bei uns ein, die noch schrecklichere pietistische Oma. Am 27. Dezember war das alles verschwunden. Epiphanien verkehrt herum. Die Spannung zwischen den Eltern, denn es kam tatsächlich zum Aufeinanderprall der Mentalitäten, religiös, psychologisch und auch aus anderen Motiven an diesem Fest. Man könnte sagen, es ist der Höhepunkt des Mythos, der Geburtlichkeit, der Kindheit, der Reinheit, der Transparenz und der Enttäuschung der Entmythologisierung. Das Fest ist beides. Oder man könnte auch sagen, es ist die Verheißung, dass alles symbolisch ist, dass alles mehr bedeutet und zugleich spüren wir im Mythos vom Christkind am deutlichsten, dass dies nicht so ist. Das Christkind, das die Gaben gab, verlieh dem Fest seinen Charakter, seinen Glanz. Das Herkommen der Gaben von Ferne mit den Briefen an den Fenstern und die erste Aufklärung im Leben, die man erfährt, ist, dass an all dem nichts ist. Im zweiten Schuljahr spätestens wird man aufgeklärt. Es ist nichts dran. Es ist nur Inszenierung der Eltern. Traum und Trauma.
Weihnachten im Hause Hesse und der Therese von Lisieux. Wir sind in den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Pubertätsjüngling Hesse beobachtet seinen jüngeren Bruder Hans, wie er noch enthusiasmiert und verklärt auf die Gaben schaut, es noch christlich entgegennimmt und verachtet seinen Bruder. Wie wir ja alle sehr schnell von sanfter Verachtung leben, woher sollten wir sonst unser Selbstbewusstsein beziehen? Dieser Bruder wird sich das Leben nehmen und Hesse erzählt diese Geschichte im Nachblick dieses Wissens.
Im Hause von Lisieux, diesen zwischen vielen Neurosen und Überfrömmigkeit oszillierenden Schwestern, eine ähnliche Szene. Therese hört, wie die älteren Schwestern zum Vater sagen: das wird wohl das letzte Jahr sein, das wir dieses Geschenktheater spielen müssen. Und sie bricht in Tränen aus und verschließt sich im Weinen. Und das ist die entscheidende Krise der Differenzierung zwischen Symbol und Wirklichkeit, zwischen Religion und Andeutung, zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Das Fest als schwieriger Lernort, als Ort symbolischer Differenz, vielleicht.
Bei uns fängt Weihnachten am 27. Dezember an; dann endlich wurde etwas davon Wirklichkeit. Man hatte das Kirchliche hinter sich, man musste nicht mehr zur Kommunion gehen, sich nicht von der Sexualität enthalten mit all dem, was damit archaisch verbunden war. Es war endlich wieder beruhigter Alltag.
Zweitens: Das Fest als Unterbrechung und Schwelle.
Das Fest unterbricht die Läufigkeit des Alltags, ist Liminalität, Schwelle. Das Fest unterbricht und gibt dem Außerordentlichen Raum. Und das Außerordentliche ist mehr, es ist einiges, es ist der Excessus. Das Fest ist Verschwendung, Überschuss, erinnert den Vorschusscharakter des Lebens. Alles ist mir vorgegeben, und es ist des Lebens ständige Zugabe ein ewiges „bis“, was das schönste am Konzert ist, aber auch das überflüssigste. Das Fest erinnert, dass alles, das Wesentliche des Lebens, mehr als notwendig ist, eine Formel von Jüngel, die man lange nachschmecken muss. Es ist ein Aufatmen in der Ahnung von Freiheit und Ja, dass wir im Grunde von etwas leben, was der Dürftigkeit, dem Bedürfnis, dem Engen, dem Berechnenden entgeht. Vergeudung, Opfer…
Aber das Fest ist auch Feier der Lichtwende, der vielen prekären Wandlungen, es ist schon viel Tod in der Geburt und hoffentlich auch viel an Geburtlichkeit im Sterben. Leben als Wandlungsgang, erinnert, begangen, verheißen, sich durchsetzend. Menschlich wandelt sich etwas, aber auch die Geheimnisanschauung des Lebensstaubes meint, das Geheimnis des Festes und der Religion sei nicht die Versöhnung, sondern die Erinnerung und Verheißung von Erlösung. Durchbruch und Überfahrt, das geschieht auch in der Weihnachtsfeier von Schleiermacher. Erst diskutieren drei Männer: ernsthaft theologisch ein mystisch Gestimmter, ein Skeptiker, und ein mehr Orthodoxer über den Sinn und die Möglichkeit, die Bedingung der Möglichkeit des Weihnachtsfestes. Das ist der moderne Mensch. Wir arbeiten solange unendlich an den Bedingungen der Unmöglichkeit, dass gar nichts mehr wirklich wird. Dann kommt das Fest nicht. Aber Gott sei Dank siegen die Frauen, die Frauen, die das Fest bereiten, die kochen, alles bereit stellen, es siegen das Kind, die Musik, die Gaben und die Gastlichkeit. Human eingelöstes Fest, beste liberale Theologie, Feier des Präreflexiven und der Urverbundenheit, das ist das Erste was uns vorgegeben ist.
Drittens: Fest als geteilte Erinnerung.
Fest ist geteilte Zeit, geteilter Raum, Kommunion und geteilte Erinnerung. Erhebung des Datums, dass wir mit uns selbst, mit dem Leben, miteinander im Raum Gottes verbunden sind. Fest ist Begehung des Kairos dieser Wahrnehmung. Das Präreflexive, das uns trägt, das Vorbewusste, das gnadenvoll Vorbewusste wird zum Leitmotiv, wird musikalisch sichtbar, hörbar, spürbar. Das ist das ontologische Urereignis. Wir brauchen keine Angst zu haben, sondern es gibt eine Vorgabe in der Tiefen- und Höhenschicht unseres Daseins, ein Golfstrom, der uns trägt, wärmt und zu bestimmten Gestaden führt, das wird erinnert und der Himmel, der das ganze überwölbt. Dieser Himmel ist größer als unsere Horizonte reichen und der Golfstrom des Lebens tiefer als unsere Supervisionen und Analysen je sich erstrecken könnten. Das Fest begeht dieses „Prae“. Deswegen ist es voller Gesang, Musikalität; mit dem Weihnachtsbaum kommt die Natur in den Raum. In alldem vollzieht sich die Hochzeit dessen, was sich normalerweise ausschließt. Hoch-Zeit einer Hochzeit.
Aber genau da ist wiederum die Bruchstelle, diese Einheit kippt um in Langeweile. Langeweile ist ein nachträgliches Phänomen, wenn Fülle zu groß wird. Jeder kennt das: Aus der Langeweile entstehen Öde und Reibung. Nichts ist konfliktträchtiger in Familien als das Weihnachtsfest und die Ferien. Das Fest wird steif oder falsch ausgelassen um die Leere zu kompensieren. Es ist tatsächlich der kritische und schöne Höhepunkt des Mit- und Füreinander.
Viertens: Das Fest als erfülltes Leben und unfassliche Leere.
Das Fest feiert, begeht, erhebt in erhebender Weise die Fülle. Die Dichte, die Koinzidenz von Leib und Seele, innen und außen, Wort und Wirklichkeit – Realpräsenz –, ähnlich wie die Kunst. Im Mythos haben wir eine Koinzidenz, ein Zusammengehen von Erzählung und Wirklichkeit. Im Ritus von Gestus und Epiphanie, in der Mystik von Innerlichkeit und Gegenwart, im Ethos von innerer Haltung und äußerer Handlung, in der Prophetie von zerfallender Wirklichkeit und Ahnung des darin Andringenden, in der Verheißung, in der Wandlungsgeschichte. Mensch und Religion und Kunst können nicht ohne Mythos, Mystik, Ritus, Prophetie und Ethos sein. Die Verheißung, dass alles Symbol eines Unvordenklichen ist, Metapher für etwas Größeres, sprach- und wirklichkeitsverwandelnd und Spur für das Unsägliche. Das Fest als Symbol, Metapher und Spur, in dem wir spüren, dass alle Wirklichkeit Symbol, Metapher und Spur ist. Aber genau hier, in diesem Ungeheuren, in dieser Verheißung, in dieser festlichen Zustimmung zur Wirklichkeit, ist auch das unfasslich Unfassbare, die Leere. „Wir sind auf einem Fest, das uns nicht liebt“, heißt es bei Tomas Tranströmer.
„Minusgrade
Wir sind auf einem Fest, das uns nicht liebt. Zum Schluß läßt das Fest seine Maske fallen und zeigt sich als das, was es wirklich ist: ein Rangierbahnhof. Kalte Kolosse stehen auf Schienen im Nebel. Ein Stück Kreide hat die Wagentüren bekritzelt.
Es darf nicht erwähnt werden, aber hier ist viel unterdrückte Gewalt. Deshalb sind die Einzelheiten so lastend. Und ist es so schwer, das andere zu sehen, dass es auch gibt: einen gespiegelten Sonnenstrahl, der sich über die Hausmauer bewegt und durch den unwissenden Wald aus flimmernden Gesichtern gleitet, ein Bibelwort, das nie geschrieben wurde: ‚Komm zu mir, denn ich bin widerspruchsvoll wie du selber‘.“
Das wäre eine Verheißung, die der Bibel fehlt. Paul Tillich, als einer der wenigen theologischen Denker der Ambivalenz, hätte vielleicht dieses Wort erfinden können.
„Morgen arbeite ich in einer anderen Stadt: Ich sause dahin durch die Morgenstunde, die ein großer schwarzblauer Zylinder ist. Orion hängt über dem Bodenfrost. Kinder stehen in einem stummen Haufen und warten auf den Schulbus, Kinder, für die niemand betet. Das Licht wächst sachte wie unser Haar.“
Die Leere, der Warteraum. Je grösser die Erfüllung, umso neuer auch das Warten, die Erwartung wie beim Ein und beim Ander.
Vielleicht ist sogar im Zentrum des Mysteriums etwas unfasslich Leeres, was wir Seele nennen. Es ist belebt, alles und nichts ist da, das Wesen Gottes. Es ist der reine Ablativ und Oblativ, rein hingegeben, aber es ist nichts Viertes in Gott. Die Hostie, man sieht nichts und es soll die Fülle sein. Geschmackloses Brot, unscheinbar, reine Weiße, das Nichts, das das Alles bedeutet. Fronleichnam kreist um dieses Geheimnis. Und so könnte ich noch lange fortfahren: im Zentrum des Sabbat ist die Ruhe, die Abstinenz. Und in asiatischen Tuschzeichnungen ist in der Mitte die Leere und der Mensch ist ganz an der Seite. Sodann das leere Grab. Wir leben von der Lizenz der Abwesenheit Jesu. Sonst wäre die Kirche nicht, wenn er da wäre. Ablativ und Übergang ist das Zentrum, das dunkle und leere Zentrum des Mysteriums.
Und in all dem geschieht ständige Wandlung von Tod in Leben, von endlich zu unendlich und wieder zu endlich, Gott in Mensch, Mensch zu Gott, bleibendes Passagenwerk. Das Fest begeht dieses Passagenwerk. Und vielleicht könnte man es mit einem Claudio Magris gewidmeten Gedicht von Michael Krüger noch einmal so sagen:
„Wir haben ein paar Jahrzehnte Zeit, um den Glanz der Dinge zu sehen, und manche von uns haben den Ehrgeiz, ihn noch zu vermehren…
Es geht nicht ganz ohne Gott, auch wenn er sich nie wieder zeigen wird, um für den Glanz auf den Dingen, Erbarmen zu fordern wie für Kinder.“
Zum Fest gehört der Nachklang. Das Verklärende des Nachklangs, aber auch die Trauer.
Über die Erfüllung, die dann in Melancholie umschlägt.
Es bleibt der entnadelte und weggeworfene Tannenbaum, wie es das unvergessliche Märchen von Andersen evoziert.
Aber vielleicht auch eine Ahnung, oder jene seltene Witterung, wie sie Jacob Taubes beschreibt: „Ich fühle Luft von anderem Planeten“. Und: „Entschuldigen Sie, in einer Welt allein kann ich nicht leben“.
Das Fest erinnert die Doppelheit der Welten. „Ich fühle Luft von anderem Planeten“. Das ist eine Gedichtzeile von Stefan George, von Schönberg vertont (Opus 11). Es war dies das Losungswort in der Gruppe um Horkheimer und Adorno im Exil in New York.
Was wollen wir mehr?
“Ein Fest, das mich nicht liebt”